Forschungsprogramm

Der Fokus des Basler Graduiertenkollegs in Gender Studies liegt auf Prozessen der Normalisierung als Bedingung und Grenze gesellschaftlicher Existenzweisen, die aus kultur-, sozial- und naturwissenschaftlicher Perspektive bearbeitet werden können. Diese Prozesse konstituieren spezifische Subjektivitäten, Denk-, Gefühls- und Körper(praxen), und sie implizieren bestimmte Herrschafts-, Differenzierungs- und Disziplinierungsmechanismen. So bestimmen sie das historisch Denk- und Lebbare, verweisen jedoch gleichzeitig – nicht zuletzt in ihren kontingenten und stets umkämpften Grenzziehungen – darauf, dass und wie es anders sein könnte: auf alternative Modi individueller Existenz und gesellschaftlicher Ordnung. Das Graduiertenkolleg interessiert sich vor diesem Hintergrund für kritische Analysen dieser Prozesse aus einer mehrdimensionalen Perspektive in ihrer historischen Genealogie und ihrer aktuellen Reproduktion und Transformation.

Folgende Themenbereiche werden als wichtige Analysefelder erachtet, wobei auch weitere Schwerpunktsetzungen innerhalb des übergreifenden Forschungsthemas möglich sind:

1) Hegemoniebildung Europas/ des Okzidents
Hier liegt der Schwerpunkt auf Untersuchungen der verschiedenen Aspekte der historischen und aktuellen Hegemoniebildung Europas/ des Okzidents in ihrer Verwobenheit mit der (Re-)Produktion der Geschlechterverhältnisse im globalen Kontext. Dabei sollen sowohl strukturelle, individuelle als auch symbolische Dimensionen Berücksichtigung finden. Bislang konzentriert sich die theoretische und empirische Auseinandersetzung meist entweder eher auf die Selbstaffirmierung Europas oder auf die des Okzidents und die jeweiligen Prozesse des Othering. Demgegenüber sollen im Kolleg vermehrt die Verschränkung und Wechselwirkung dieser Perspektiven in den Blick genommen werden.

2) Geschlecht, Sexualität und Sexualisierung
Gegenwärtig erweisen sich Sexualität und die Sexualisierung der Gesellschaft als exemplarische Felder der paradoxen Gleichzeitigkeit von Wandel und Persistenz in den Geschlechterverhältnissen. So lassen sich einerseits eine Pluralisierung sowie andererseits eine starke (Re-)Traditionalisierung geschlechtlicher und sexueller Existenzweisen beobachten. Wünschenswert sind diesbezüglich Untersuchungenvon historischen und aktuellen Inszenierungen, Imaginationen und Praxen von Sexualität als gesellschaftlichem und kulturellem Phänomen. Von besonderem Interesse sind auch Arbeiten, die an neue naturwissenschaftliche Konzepte (z.B. Epigenetik) anknüpfen, die sich mit den komplexen Wechselwirkungen von sozialen Kontexten und physiologischen Prozessen befassen.

3) Feminismus, Normativität und Kritik
Hier geht es um aktuelle Herausforderungen für feministische Theorie und Kritik: Wie können die globalen ökologischen, ökonomischen, sozialen und politischen Krisen oder die Ambivalenz von Normalisierungsbestrebungen (wie bspw. neoliberale Vereinnahmungsstrategien) angemessen erfasst werden? Sind bisherige feministische Konzepte ausreichend oder sind neue Methoden und Begrifflichkeiten notwendig? Müssen neue Bündnispolitiken gefunden werden? Zu klären ist zudem, inwiefern Konzepte der Mehrdimensionalität, der Intersektionalität, der Interdependenz oder der Hegemonieselbstkritik hilfreiche analytische Instrumente bei diesem Unterfangen sein können. Nicht zuletzt stellt sich aktuell die Frage, wie und in welcher Form sich im Rahmen dekonstruktivistischer Ansätze Normativität als Kriterium von Kritik denken lässt.

Mittels unterschiedlicher methodischer und theoretischer Zugänge (z.B. postkoloniale und queere Theorien), die kultur-, sozial-wissenschaftliche, und naturwissenschaftliche Ansätze der Geschlechterforschung einbeziehen, soll der gemeinsame Forschungsfokus bearbeitet werden. Dieser inter- bzw. transdisziplinäre Zuschnitt ist ein wesentliches Merkmal des Graduiertenkollegs. Ziel ist, die unterschiedlichen Projekte und deren Ergebnisse immer wieder aufeinander zu beziehen, um gemeinsame Einsichten in historische wie aktuelle Entwicklungen zu gewinnen.