Während der Coronapandemie traten neue soziale Konflikte hinsichtlich der Einhaltung der Pandemiemassnahmen auf. Eine regressive libertär-autoritäre Bewegung forderte das Ende aller Schutzmassnahmen für vulnerable Personen (Amlinger und Nachtwey 2022). In den ländlichen und katholischen Kantonen der Deutschschweiz, insbesondere in der «Urschweiz», war der alltägliche Widerstand gegen die Pandemieverordnung stark ausgeprägt als in vergleichbaren Sozialräumen. Zur Erklärung dieser regionalen Unterschiede, die sich nicht bruchlos aus sozialstrukturellen Faktoren herleiten lassen, ist eine empirische Untersuchung notwendig.
Um diesen alltäglichen Widerstand zu verstehen schlägt unser Projekt auf der praxeologischen Ebene das Konzept der «Contentious Non-Compliance» (CNC) vor, das die vorpolitische Anfechtung staatlicher Massnahmen im Alltag beschreibt. Die Dissertation argumentiert, dass CNC in die gelebte Kultur von Communities eingebettet ist und durch eine Alltagsideologie begleitet wird. Zur Konzeptualisierung dieser mentalen Struktur wird Antonio Gramscis Konzept des Alltagsverstands verwendet. Mit dem Alltagsverstand soll das heterogene und oft widersprüchliche Ensemble von tradierten Annahmen, Plausibilitäten und Wertstrukturen analysiert werden, die den Menschen im Alltag selbstevident erscheinen (Crehan 2022). Im Gegensatz zu verwandten Konzepten wie der „Metys“ (Scott 1985) oder des „Eigensinns“ (Lüdtke 1989), enthält Gramscis Konzept des Alltagsverstands eine historisch-materialistische Komponente. Gramsci fragt nach den „Narben seiner Entstehung“ des kollektiven Bewusstsein, die es aufgrund seines Hervorgehens aus dem zerrissenen gesellschaftlichen Seins trägt. Die Untersuchung soll zeigen, wie historische Formen von Klassenherrschaft und -unterdrückung, aber auch vergangenes Aufbegehren und Erfolge im Klassenkampf im Alltagsverstand verankert sind und sozialen Wandel zugleich dokumentieren und präformieren.
Um die normative Struktur des Alltagsverstandes empirisch zu untersuchen führt die Dissertation vertiefende Case-Studies dreier ländlicher Gemeinden mit vergleichbaren Sozialstrukturen durch, die während der Pandemie durch hohe, respektive tiefe CNC-Niveaus auffielen. Durch Gramscis Konzept des Alltagsverstandes wird der vorpolitische Raum der Bewegungsbildung anthropologisch untersuchbar und im Sinne einer „Moral Social Geography“ fundiert (Skocpol und Williamson 2012).
Die Dissertation führt die Hypothese mit, dass ein sozialräumlich ungleich verteilter „Contentious Common Sense“ existiert, der es den Menschen nahelegte, an Coronaprotesten teilzunehmen, das Pandemiegesetz an der Urne abzulehnen und sich den Pandemiemassnahmen auf alltäglicher Basis zu widersetzen. Die zentrale Forschungsfrage der Dissertation lautet: „Wie ist der Alltagsverstand der Menschen in Communities mit starkem Widerstand gegen die Pandemiemassnahmen verfasst, aus welchen historischen und normativen Komponenten speist er sich und wie präformiert er die Mobilisierbarkeit für regressive politische Bewegungen?“
Erstbetreuer: Prof. Dr. Oliver Nachtwey (Universität Basel, Fachbereich Soziologie)
Zweitbetreuer: Prof. Dr. Bernd Belina (Goethe Universität Frankfurt, Institut für Sozialforschung)
Johannes Truffer, M.A., geboren am 28.12.1994, ist Doktorand am Soziologischen Seminar der Universität Basel. Er studierte Soziologie und Philosophie an den Universitäten Luzern und Basel und erwarb seinen M.A. 2021 an letzterer. Er arbeitet am Lehrstuhl für Sozialstrukturanalyse der Universität Basel (Prof. Dr. Oliver Nachtwey) an seiner Promotion im Rahmen des SNF-Projekts “Contentious Non-Compliance with Pandemic Response”. Seine Schwerpunkte liegen in der der Kritischen Gesellschaftstheorie, der Autoritarismus- und der Digitalisierungsforschung. Im zweiten Halbjahr 2024 erscheint bei German Politics and Society seine erste Projektpublikation (“The Formation and Consolidation of a Motley Crew: A Mixed-Method Overview of Swiss and German Corona Protests”).
HS2016-HS2018
06.03.2020
FS 2021
HS 2021
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HS 2022
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Johannes Truffer
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