Das ‹Volk› im Streit um das Frauenwahlrecht: Politische Subjektivierung nach Jacques Rancière

Ausgehend vom Fallbeispiel der Kämpfe um das Frauenwahlrecht als Gegenstand der Analyse und Reflexion widmet sich die Dissertation dem Rätsel politischer Subjektivierung: Wie kommt es dazu, dass unterdrückte Menschen zu politischen Subjekten werden, die sich gegen ihre Unterdrückung auflehnen? Wie wurden aus Frauen, die in der Öffentlichkeit zu schweigen hatten, politische Subjekte, die ihre Stimme erhoben und ungefragt das Wort ergriffen?

Jacques Rancières Konzept politischer Subjektivierung verspricht, dieses Rätsel zu lösen und damit zugleich eine Antwort auf die politisch-theoretische Grundfrage nach dem ‹Volk› als Subjekt der Demokratie zu geben. Hierin liegt grosses Erkenntnispotenzial für das Forschungsdesiderat der demokratietheoretischen Reflexion des Frauenwahlrechts.

Eingeschränkt auf den Untersuchungskontext Liechtensteins und der Schweiz als Fundus an Material entfaltet die Dissertation eine systematische Lesart von Rancières Begriff politischer Subjektivierung durch «Desidentifizierung» (Rancière 2002: Das Unvernehmen), verstanden als vielschichtige Praxis der Loslösung vom zugewiesenen Platz in einer Herrschaftsordnung. Die Formierung politischer Subjekte lässt sich hiernach, so die interpretative These, als prozesshaftes Geschehen entlang von vier heu­ristisch unterschiedenen Dimensionen – Erfahrung, Handeln, Wirkung und Horizont – kritisch ausbuchstabieren und konzeptuell näher bestimmen.

Das in rekonstruktiver Begriffsarbeit und anhand der Analyse historischer Ereignisse vertiefte Verständnis politischer Subjektivierungsprozesse eröffnet eine kritische Perspektive auf den Begriff demokratischer Subjektivität, welche es erlaubt, dessen gegenwärtig hegemoniale Deutung aus radikaldemokratischer Sicht infrage zu stellen. Das ‹Volk›, so die argumentative These im Anschluss an Rancière, trat im Streit um das Frauenwahlrecht nämlich nicht in den Abstimmungen der Männer demokratisch in Erscheinung, sondern in der emanzipatorischen Praxis der Frauen, welche sich den Platzanweisungen der männlichen Herrschaft im Ringen um politische Gleichheit auf vielfältige Weise widersetzten.

 

Supervisor:  Prof. Dr. Katrin Meyer
Co-Supervisor:  Prof. Dr. Franziska Martinsen (Universität Duisburg-Essen)


Bio

Beat Ospelt studierte Philosophie und Gesellschaftswissenschaften an der Universität Basel sowie Politische Philosophie im Masterstudiengang Political, Legal, and Economic Philosophy (PLEP) an der Universität Bern. Seit Frühjahr 2021 ist er Doktorand im Fach Philosophie und Mitglied des Graduiertenkollegs Gender Studies «Geschlechterverhältnisse – Normalisierung und Transformation» sowie der Graduate School of Social Sciences (G3S) an der Universität Basel.


Forschungsschwerpunkte

  • Politische Philosophie / Theorie
  • Radikale Demokratietheorie
  • Theorien politischer Subjektivation
  • Jacques Rancière

Aktuelle Publikationen

Die «Eingeheirateten» und das Frauenwahlrecht in Liechtenstein: Ein Fallbeispiel der Verstrickung politischer Subjektivierung nach Jacques Rancière, in: Revisioning Democracy and Women’s Suffrage: Critical Feminist Interventions, eds. Katrin Meyer, Stephanie Pfenninger Tuchschmid and Yunna Skilarova. Zürich: Seismo 2024, pp. 111–135. Open Access: Link

 

Portrait von Beat Ospelt

Beat Ospelt
Doktorand im Fachbereich Philosophie
Graduate School of Social Sciences (G3S)
Petersplatz 14
4051 Basel
beat.ospelt@clutterunibas.ch