Erzählte Begutachtung. Die Aktenfigur der kinderpsychiatrischen Beobachtungsstation in der biografischen Auseinandersetzung

Projektbeschrieb

«Ich habe mich vor mir selber geschämt, wegen diesem Intelligenztest. Ich habe eben gedacht: Wenn das jemand weiss!»1 

Die Einsicht in die eigenen Akten erleben Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und administrativen Versorgungen oft als einschneidendes Erlebnis, vor allem wenn sie in den Unterlagen abwertende Aussagen über ihre Person und ihre Familie vorfinden.2 Sie werden mit ihrer «Aktenfigur» konfrontiert, das heisst mit einem Bild der eigenen Person, das von den damals begutachtenden Fachleuten konstruiert wurde.3 Im Fokus meiner kulturanthropologischen Dissertation stehen lebensgeschichtliche Interviews mit Personen, die als Kinder in den 60er- und 70er- Jahren zur Begutachtung in die zürcherische kinderpsychiatrische Beobachtungsstation Brüschhalde eingewiesen wurden und die über sie angelegten Akten Jahrzehnte später eingesehen haben. Ich untersuche, wie diese ehemaligen kinderpsychiatrischen PatientInnen ihre Begutachtung erzählen und zentriere dabei die Frage nach den narrativen Bewältigungspraktiken von Betroffenen in der Auseinandersetzung mit ihrer Aktenfigur.4 Die «erzählte Begutachtung» der Betroffenen werte ich unter Beiziehung der Analyse ihrer Akten anhand der Grounded Theory und narrationsanalytischen Ansätzen aus. Mein Ziel ist es, darzulegen, dass es Betroffenen über das Erzählen gelingen kann, ihre eigene Verfasstheit herzustellen, zu aktualisieren und auch zu verändern. Das Erzählen weckt das Potential identitätsstiftender Selbstermächtigung, im Gegensatz zur Aktenfigur, die als unveränderlich erscheint.5


1 Monika S., Interview vom 23.04.2019, Abs. 324.
2 Vgl. Künzle, Lena u.a.: Selbstermächtigung durch biografisches Erzählen? Von kinderpsychiatrischer Begutachtung Betroffene und ihre Auseinandersetzung mit ihrer Aktenfigur, in: Traverse – Zeitschrift für Geschichte 3, 2021.
3 Ich verwende den Begriff «Aktenfigur» im Sinne von Gallati; vgl. Gallati, Mischa: Entmündigt. Vormundschaft in der Stadt Bern, 1920-1950, Zürich 2015 (Zürcher Beiträge zur Alltagskultur 21); Matthias Zaft verwendet den Begriff des Akten- Zöglings; vgl. Zaft, Matthias: Der erzählte Zögling. Narrative in den Akten der deutschen Fürsorgeerziehung, Bielefeld 2011.
4 Im Sinne eines praxeologischen Zugangs fasse ich die kinderpsychiatrische Begutachtung als Prozess, wobei ich den Aufenthalt der ehemaligen PatientInnen der Kinderpsychiatrie in der Beobachtungsstation wie auch die daraus entstandenen Akten in meiner Untersuchung berücksichtige.
5 Vgl. Meyer, Silke: Was heisst Erzählen? Die Narrationsanalyse als hermeneutische Methode der Europäischen Ethnologie, in: Zeitschrift für Volkskunde 110 (2), Berlin 2014, S. 243–267, hier S. 263–264.

 

Supervisor: Prof. Dr. Eberhard Wolff

Co-Supervisor: Prof. Dr. Walter Leimgruber


Bio

Lena Künzle studierte Kulturanthropologie und Soziologie an der Universität Basel. Während ihres Studiums arbeitete sie als Hilfsassistentin am Seminar für Kulturwissenschaften und Europäische Ethnologie sowie am Institut für Soziologie. Ihr Forschungsinteresse konzentrierte sich hauptsächlich auf die Thematik sozialer Ungleichheit. Insbesondere die Fragen nach der Definition von Normalität, Stigmatisierung, In- und Exklusion, totale Institutionen sowie jene nach den darin involvierten Akteuren und deren Lebenswelten gehörten zu ihrem Forschungsfokus. So hat sie sich in ihrer Masterarbeit „The Art of the Artless? Kulturanthropologische Perspektiven zu Subjektkonstruktionen hinsichtlich der Figur des Outsider-Art-Künstlers im Kunstdiskurs“ mit sozialen Prozessen der Konstitution eines gesellschaftlich „Anderen“ und daraus resultierenden Marginalisierungen auseinandergesetzt.

Im September 2018 begann Lena Künzle ihre Anstellung an der Universität Zürich im Forschungsprojekt „Entstehung und Wirkkraft psychiatrischer Gutachten auf die Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen 1921-1974“ im Rahmen des NFP 76.


Publikationen

Peer Reviewed

Künzle, Lena; Lis, Daniel; Galle, Sara; Neuhaus, Emmanuel; Ritzmann, Iris: Selbstermächtigung durch biografisches Erzählen? Von kinderpsychiatrischer Begutachtung Betroffene und ihre Auseinandersetzung mit ihrer Aktenfigur, in: Traverse – Zeitschrift für Geschichte 3, 2021.

Künzle, Lena; Lis, Daniel; Galle, Sara, Neuhaus, Emmanuel; Ritzmann, Iris: Legitimierung behördlicher Praxis? Analyse einer stationären kinderpsychiatrischen Begutachtung in Zürich 1944, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 31 (3), 2020, S. 124–143.

Galle, Sara; Neuhaus, Emmanuel; Künzle, Lena; Lis, Daniel; Ritzmann, Iris: Die psychiatrische Begutachtung von Kindern mit «abnormen Reaktionen» in der Zürcher Kinderbeobachtungsstation Brüschhalde 1957 bis 1972, in: Gesnerus 77 (2), 2020, S. 206–243.

Rezensionen

Künzle, Lena: Rezension zu: Kersting, Franz-Werner; Schmuhl, Hans-Walter: Psychiatrie- und Gewalterfahrungen von Kindern und Jugendlichen im St. Johannes-Stift in Marsberg (1945-1980), Münster 2018, in: Gesnerus – Swiss Journal of the History of Medicine and Sciences, 76 (1), 2019, S. 128 – 129.

Berichte

Künzle, Lena: Abschlusstagung des Projekts: Heimerziehung in Baden-Württemberg 1949-1975, H-Soz-Kult. Kommunikation und Fachinformation für die Geschichtswissenschaften, 02.08.2021. Online: <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-8035>, Stand: 02.08.2021.

Masterarbeit (unveröffentlicht)

Künzle, Lena: The Art of the Artless? Kulturanthropologische Perspektiven zu Subjektkonstruktionen hinsichtlich der Figur des Outsider-Art-Künstlers im Kunstdiskurs, Masterarbeit, Universität Basel, Basel 2018.

Portrait Lena Künzle

Lena Künzle
G3S - Graduate School of Social Sciences
Petersgraben 52
4051 Basel